(Update am 27.4.)
Nachdem ich vor Jahren Einblicke in die schwedische Politik erhalten habe, stelle ich mir seitdem beim regelmäßigen Lesen der schwedischen News-Seiten immer wieder dieselbe Frage: Warum reden Politiker in Deutschland eigentlich nicht mit ihren Wählern (ausgenommen die klassischen weißen Bistro-Tische in den Fußgängerzonen in Wahlkampfzeiten…) über kontroverse Fragen oder diskutieren unterschiedliche politische Positionen nicht mit anderen politischen Akteuren abseits der bekannten TV-(Talk-)Shows? Statt dessen gibt es immer wieder die Vor- und Werturteile gegen einen besseren Austausch von Regierenden und Regierten wie gerade wieder in der Osterausgabe der Welt am Sonntag (“Der Bürger, das wandelnde Gegengutachten” und “Demokratie – wie hätten Sie es denn gern?“).
Eigentlich sollte der direkte Austausch in einer Demokratie eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, wird aber bisher nur in seltenen Fällen wirklich gelebt. Wahrscheinlich ist diese Sprachlosigkeit gegenüber den Wählern (und den nicht noch nicht Wahlberechtigten) bisher auch deshalb noch gar nicht aufgefallen, da Beispiele aus anderen Ländern für eine besseren Kommunikation mit der Bevölkerung und mit politischen Konkurrenten nicht sehr bekannt sind und weil es natürlich einige Ersatzformate gibt, die den Anschein erwecken (sollen), dass eine solche gegenseitige Information und ein solcher Argumentationsaustausch durchaus und regelmäßig stattfindet. Die wahrscheinlich sogar echte Verwunderung der am S21-Prozess Beteiligten darüber, dass es auch nach Abschluss des jahrelangen Verfahrens noch eine scheinbare Mehrheit in der Bevölkerung gegen das Projekt gibt, ist Ausdruck dieser eben nur scheinbar vorhandenen Partizipationskultur.
Welche Orte des politischen “Diskurses” gibt es derzeit in Deutschland?
Die Qualitätsmedien nehmen für sich in Anspruch, der Ort der wahren intellektuellen Auseinandersetzung zu aktuellen politischen Themen zu sein. Langgediente Redakteure, die sich über Jahre hinweg tatsächlich häufig eine inhaltliche Kompetenz angeeignet haben, wachen als Gatekeeper über den Stand der sogenannten öffentlichen Diskussion zwischen Politikern und Lesern (ihres Mediums). Dass die Kommentatoren im Kontext der Haushaltskonsolidierung des einen Qualitätsmediums dann eher Ausgabenkürzungen verlangen und die Kommentatoren anderer Medien einnahmeseitige Maßnahmen, ist allerdings nicht mehr wirklich überraschend. Auch die Zuordnung der jeweiligen Politiker der verschiedenen Parteien zu diesen Positionen ist dann ein Leichtes. In denen der Berichterstattung dann folgenden Tage wird gern auf die Bestätigung der jeweils eigenen Position in der Zeitung A hingewiesen während der andere politische Akteur auch gern auf den Kommentator B als Ausweis der Richtigkeit der eigenen Meinung hinweist. In der Folge können die Wähler dann einer geschlossenen Diskussion beiwohnen, die jederzeit gern eine weitere Zuspitzung im TV in den bekannten Talkshows erhält. Auch hier ist der Wähler wieder Zaungast und darf den Entscheidern bei der Begründung derselben lauschen – aber eben nicht mehr (das Hineinreichen ausgewählter Faxe oder sogar Mails ist dann Ausweis des innovativen Formats).
Politische Akteure aller Parteien nutzen natürlich auch zunehmend die sozialen Medien (meist Facebook, jedoch immer häufiger auch Twitter), um den Kontakt zum Wähler zu verbessern und einen weiteren Informationskanal zu eröffnen. Gern werden die Facebook-Kontakte dann darüber informiert, auf welchem Flughafen man gerade festsitzt, welchen Ortsverein man gestern zum Grünkohlessen besucht hat oder welche Besuchergruppe diese Woche empfangen worden ist.
Ist dies ein Zeichen dafür, dass (potenzielle) Wähler ernst genommen werden?
Es gibt durchaus Unterschiede zwischen den Parteien in der Art der Nutzung dieser Medien. Unabhängig von politischen Inhalten, Zielen und Meinungen sei es jedem Interessierten empfohlen, sich bei den bekannten Akteuren der Parteien als Kontakt (oder Fan) einzutragen und einfach mal gesondert auf die inhaltliche Tiefe der FB-Seite des Kontaktes zu achten. Ich denke, die Unterschiede sind eklatant und erklären aus meiner Sicht auch sehr gut die derzeitigen Wahlerfolge der Grünen. Natürlich gibt es auch bei den anderen Parteien Akteure, die sich deutlich positiv abheben, in der Summe ist diese Aktivität aber nicht über alle Parteien gleich verteilt.
Als durchaus ernsthaft gemeinte Ansätze sind natürlich abgeordnetenwatch.de und die üblichen Anhörungs- und Planfeststellungsverfahren der Verwaltung, zu nennen. Beides sind allerdings sehr spezielle Verfahren bzw. Plattformen, die stets nur einen kleinen Teil der interessierten Wähler – dies allerdings teils sehr fokussiert – ansprechen. Speziell auf abgeordnetenwatch.de kann dabei immer wieder sehr schön beobachtet werden, welches Selbstverständnis die befragten Politiker antreibt, ob die Anfrage der Plattform (aktuell zu den Kalendern der Büros) eher als anmaßend betrachtet wird oder ob der befragte Politiker tatsächlich an den Fragen der Wähler interessiert ist. abgeordnetenwatch.de übernimmt damit eine sehr bedeutende Aufgabe in der Herstellung von mehr Transparenz über die Verfahren und Prozesse in der Politik. Auf der Community-Seite des FREITAG sowie auf der Liquid-Democracy-Seite der Internet-Enquete finden sich ebenfalls umfangreichere inhaltliche Diskussionen, die allerdings bisher relativ stark auf abgegrenzten Communities basiert. Auch The European stellt eine solche Plattform zur Verfügung. Wie jedoch die Blogger-Forscherin Stine Eckert eben dort feststellt, sind Blogs einfach noch nicht im Mainstream angekommen.
Ein kleiner Blick über den Tellerrand
Es fehlt jedoch meiner Meinung nach auf all diesen Seiten und in den Formaten der Ansatz eines öffentlichen und gegenüber der Beteiligung von “Nicht-Experten” offenen inhaltlichen Diskurses. Die Diskurskultur in Deutschland könnte sehr viel von der Debattenkultur in Schweden lernen. Schon in Zeiten der alten Printmedien war es in Schweden üblich, dass sich über Tage hinweg bekannte Politiker – und nicht etwa die Kommentatoren – zu aktuellen Themen in ein und derselben Zeitung ausgetauscht haben. Die bekannten Printmedien haben dies auch auf ihre Online-Auftritte übertragen. So finden sich in der “Debatten”-Abteilung des konservativen Svenska Dagbladet sowohl leserinitiierte Meinungsartikel als auch ein weites Spektrum an Bloggeraktivitäten. Das eher noch stärker am Leser orientierte sozialdemokratische Aftonbladet hat ebenfalls eine “Debatten” Sektion. Die qualitativ hochwertigsten Debatten finden sich aber mit Blick auf die klassischen Medien in der liberalen Dagens Nyheter. Dass die Aktivität im Netz in Schweden eine ganz andere Dimension umfasst, zeigt das aktuelle Beispiel zur eventuellen Neuregelung der Abtreibungen auf den DN-Seiten. So gibt es dort zu diesem Thema nach 4 Tagen bereits 600 Kommentare (bei 9 Mio. Einwohnern gegenüber 82 Mio. Einwohnern in Deutschland) und – 70 damit verbundene neu verfasste Blogposts! Eine Weiterentwicklung des hierzulande bekannten Wahl-O-Maten gibt es auf der Seite Valpejl, auf der die Wähler nicht nur ihre Übereinstimmung mit den Parteien sondern sogar mit einzelnen Abgeordneten überprüfen können.
Im Bereich des Internets ist als politisch relevante schwedische Diskussionsplattform sicher newsmill.se zu nennen. Newsmill ist eine speziell für die politische Auseinandersetzung um aktuelle politischen Fragen geschaffene Blogging-Plattform, die sowohl durch die Teilnahme etlicher prominenter schwedischer Politiker, Wissenschaftler aber auch politisch aktiven Bürgern als auch die Vielzahl an technischen Möglichkeiten der Vernetzung von Debatten auffällt. Politiker treten auf der Plattform als authentische Vertreter ihrer und der Auffassung ihrer Partei auf, sie treten öffentlich für ihre Sache ein und müssen sich explizit vor dem interessierten Leser und Wähler verantworten. Überflüssig zu erwähnen, dass das anonyme Auftreten von Kommentatoren in den Foren in Schweden eher eine Ausnahme darstellt und man im Gegenteil sehr häufig gleich auf seinen eigenen Blog hinweist.
Könnte diese in Schweden seit Jahrzehnten vorhandene Diskussionskultur und Offenheit des politischen Prozesses und die gleichzeitige Sprachlosigkeit (s.a. Politikerverdorssenheit) und Abgeschlossenheit des Prozesses in Deutschland vielleicht einer der Erklärungsgründe dafür sein, dass zwar seit 20 Jahren etliche politische Innovationen aus Schweden (Elterngeld, Riesterrenten-Ansatz) wie auch Skandinavien insgesamt (Arbeitsmarktpolitik) importiert worden sind, es aber im gleichen Zeitraum keine relevante politische Innovation in Deutschland selbst gegeben hat?
Könnte es eventuell sein, dass Partizipation und Offenheit politische Innovationsfähigkeit befördern?